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Veränderungen und Tendenzen der
Hörspieldramaturgie
Zu
den Strategien und Positionen der dramaturgischen Arbeit im
öffentlich-rechtlichen Radio
Frank
Schätzlein
Die Rahmenbedingungen der künstlerischen Sendeformen des Radios –
Hörspiel, Radiokunst/Akustische Kunst und Feature – befinden sich in
einem beständigen Wandel, auf den die Künstler und die
Dramaturgen/Redakteure reagieren müssen. Sie stehen in einem
Beziehungsgeflecht mit ganz unterschiedlichen Bezugspunkten:
Institution, Technik, Programm, Medien, Mediennutzung, Kunst und
Gesellschaft. Das Radio ist dabei für die künstlerische Arbeit immer
mehr als bloßes Übertragungsmedium, mehr als nur ein Produktionsort. Es
ist selbst Teil der sich wandelnden Bedingungen künstlerischer Arbeit,
die nicht nur im institutionellen oder technischen Bereich, sondern
auch auf konzeptioneller und dramaturgischer Ebene Einfluss auf die
Produktion nehmen und immer wieder neue Antworten, künstlerische Ideen
und neue dramaturgisch-redaktionelle Konzeptionen fordern (vgl. hierzu
Buggert 1985 u. 1997; Hickethier 1997; Klostermeyer 1997).
So steht die Arbeit in den Hörspiel- und Medienkunst-Redaktionen der
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in enger Verbindung mit
anderen Medien (Theater, Buch, Fernsehen, Tonträger, Internet) und
Kunstformen (Drama, Roman, Fernsehspiel, Multimediakunst/Medienkunst,
Computer- und Netzkunst). Gleichzeitig ist sie ganz wesentlich geprägt
vom Wandel des Mediums Hörfunk (neue Programme und
Programmkonzeptionen, Formatierung der Programme, Wandlung der
Nutzungsformen und der Stellung in der Medienlandschaft) und nicht
zuletzt von Veränderungen und neuen ‚Spielmöglichkeiten’ durch
medientechnische Entwicklungen (Vorproduktion, Magnetband,
Stereophonie, Kunstkopf, UKW, Tonträgerentwicklung, Digitalisierung,
Internetradio/Audiostreaming, Podcasting/MP3 und Multimedia, vgl.
Schätzlein 1997 u. 2004, 402-414).
Welche Verschiebungen zeigen sich nun in der redaktionellen Arbeit seit
der Einführung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Wie reagieren die
unterschiedlichen Akteure, die Dramaturgen und Redaktionen bzw.
Hörspielabteilungen auf die vielfältigen Herausforderungen?
Der Beitrag stellt die redaktionellen Positionen einzelner Dramaturgen
bzw. öffentlich-rechtlicher Hörspiel- und Medienkunst-Redaktionen dar.
Sie stehen als Fallbeispiele für ganz unterschiedliche Versuche, Kunst
im Medium Radio zu realisieren, außerhalb des Radioprogramms für die
Kunstform zu werben und diese zu präsentieren, neue Zielgruppen zu
gewinnen und Konzepte für die Zukunft der Radiokunst zu entwickeln.
Der Begriff ‚Dramaturgie’ hat – natürlich nicht nur im Bereich des
Hörspiels – eine doppelte Bedeutung. Er meint zum einen als Ableitung
aus der Dramentheorie den Aufbau, die Gestaltung(sregeln) und die
Ästhetik des Hörspiels; zum anderen aber auch die konzeptionelle,
redaktionelle Arbeit der Dramaturginnen und Dramaturgen der
ARD-Hörspielabteilungen (inklusive Öffentlichkeitsarbeit und
Marketing). Der vorliegende Beitrag behandelt das zweite Themenfeld und
beleuchtet damit einen Bereich der Hörspielarbeit, dem bisher nur wenig
Beachtung geschenkt wurde. Untersuchungen, die diesen Aspekt der
Hörspielproduktion berücksichtigen, existieren bisher fast
ausschließlich zur bundesdeutschen Nachkriegszeit (so z.B. Bloom 1985,
35-44 u. 70-84; Wagner 1997).
Während die großen und bis heute bekannten Debatten der
Hörspielgeschichte auf dem Gebiet der Hörspielformen und -ästhetik
ausgetragen wurden (literarisches Worthörspiel, Schallspiel, Neues
Hörspiel, O-Ton-Hörspiel, Akustische Kunst, Pop-Hörspiel,
Live-Hörspiel, Hörspiel als Medienkunst usw.), finden sich dagegen nur
relativ wenige grundlegende Statements der HörspielleiterInnen und
DramaturgInnen, in denen sie ihre übergreifenden redaktionellen
Strategien offen legen. Die historische Entwicklung des dramaturgischen
Selbstverständnisses, der redaktions- und personenspezifischen
Arbeitsweise und der damit verbunden Konzeption von Radiokunst wird im
folgenden Abschnitt durch ausführliche Dokumente aus der Geschichte des
Hörspiels dargestellt.
In der Zeit der Dominanz des traditionellen literarischen Worthörspiels
und der von Heinz Schwitzke geprägten „Hamburger Dramaturgie“
(Schwitzke war von 1951 bis 1971 NWDR- bzw. NDR-Hörspielleiter) steht
erwartungsgemäß die Literatur, die „literarische Qualität“ und der
Autor als „Hörspieldichter“ im Mittelpunkt der dramaturgischen Arbeit.
Die Grundlage der Produktion bildet die gemeinsame Bearbeitung des
Manuskripts („Wortpartitur“). Von einer gleichwertigen Zusammenarbeit
mit Musikern oder Künstlern aus anderen Bereichen ist nicht die Rede.
Der Autor, Dramaturg und Medienforscher Eugen Kurt Fischer (1892-1991)
beschreibt in seiner Monographie zur Form und Funktion des Hörspiels
die redaktionellen Aufgaben des Hörspielleiters und des Dramaturgen.
Sein Augenmerk gilt dabei – Fischer war in den fünfziger Jahren Leiter
der HR-Medienforschung – insbesondere auch der Perspektive des Hörers:
Der Leiter
einer Hörspielabteilung rechnet mit einer Reihe von Gegebenheiten, die
sich zum Teil aus der Gesamtplanung ergeben, die als Ergebnis einer
sorgfältigen Abstimmung aller Programminhalte aufeinander und auf die
unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Hörerschichten und -gruppen
von den Abteilungsleitern unter dem Vorsitz des Programmdirektors
erarbeitet wird. […] Der Planungswille ist vor allem gerichtet auf
literarische Qualität quer durch die Schwierigkeitsgrade, auf
Berücksichtigung der wichtigsten Erscheinungsformen der literarischen
Entwicklung, ferner auf ein gewisses Maß von Aktualität der
ausgewählten Stoffe oder Sujets […]. Der Dramaturg hilft dem
Abteilungsleiter bei der Auswahl der Hörspiele. Darüber hinaus ist
seine vornehmste Aufgabe die Zusammenarbeit mit dem Autor. […] Oft
wandert ein Manuskript mehrmals zwischen dem Autor und dem Dramaturgen
hin und her. Im Idealfall wird auch der Spielleiter ins Gespräch
gezogen, weil er ja doch am besten weiß, was sich aus einer
Wortpartitur für den Hörer herausholen lässt. (Fischer 1964, 251 f.)
Schwitzke
selbst will sich vom Theater bzw. von der Hörspieladaption der
Dramentexte distanzieren. Er sieht die Aufgabe des Hörspielleiters in
der dramaturgischen Entwicklung des „Originalhörspiels“ als der
einzigen „funkeigenen“ bzw. „radiophonen“ Kunstform, die ganz auf die
Eigenschaften des Radios hin konzipiert bzw. geschrieben ist. Das
Hörspielprogramm ist hier in erster Linie ein Forum für zeitgenössische
Autoren.
Eine wichtige
Rolle spielt, wo die Interessen des verantwortlichen Leiters einer
Hörspielabteilung liegen. Man kennt das ähnlich vom Theater. Ist der
Leiter ein Regisseur, der selbst inszenieren will, wird ihn der
Spielplan zunächst unter dem Gesichtspunkt interessieren, welche
Möglichkeiten für glanzvolle Produktionen er ihm bietet. Bei der
Alternative Hörspiel oder Bearbeitung nicht funkeigener Texte gibt dann
erfahrungsgemäß den Ausschlag, dass Bühnenwerke erprobt sind und
‚Rollen’ enthalten, während man bei Hörspielen auf das Vertrauen zur
Urteilsfähigkeit der eigenen Dramaturgie angewiesen ist. Ist der
entscheidende Leiter aber Dramaturg oder legt das Schwergewicht auf die
Dramaturgie, dann versteht sich, dass ihn der ‚Materialstil’ des
Rundfunks (wie man in den Anfangszeiten sagte), das ‚Originalhörspiel’
(wie man heute sagt) als Aufgabe reizt.
Ich glaube, dass im Rundfunk das Primat bei der Dramaturgie liegen
sollte – aus drei Gründen. Erstens ist die Stoffbeschaffung für die
technischen Instrumente mit ihrem riesigen Verbrauch ohnehin das
ernsteste Problem; dabei nur vom Vorhandenen zu zehren, würde bedeuten,
gebildete Weltfremdheit zu pflegen. Zweitens haben, wie schon gesagt,
Darstellung und Regie im Rundfunk ohnehin keine dem Theater
vergleichbaren Möglichkeiten, also auch keinen vergleichbaren Anspruch.
Drittens geht es, wenn man dem ‚Originalhörspiel’ das Wort redet, ja
nicht nur und nicht einmal vordringlich um den ‚Materialstil’ und um
eigensinnigen Formalismus, sondern darum, das Hörspielstudio zum Forum
der Autoren und der Zeitprobleme zu machen. Ich glaube nicht, dass es
einen wichtigeren Gesichtspunkt geben kann. (Schwitzke 1963,
312 f.)
Dem
traditionellen Hörspielkonzept der „inneren Bühne“ setzt Klaus
Schöning, der als Hörspieldramaturg ab 1968 das „WDR3-HörSpielStudio“
aufbaut, gemeinsam mit anderen jüngeren Redakteuren (Heinz Hostnig,
Hermann Naber u.a.) eine neue sprachkritische, experimentelle und
antiirrationalistische Dramaturgie entgegen, in der auch der Technik
eine aktive Rolle zukommt. Auch wenn Musik und Geräusch als
Gestaltungsmittel des Hörspiels aufgewertet werden, steht die Sprache
hier zunächst weiterhin im Mittelpunkt. Strategisch geschickt setzt er
dafür in zahlreichen Publikationen den Begriff „Neues Hörspiel“, der
von diesem Zeitpunkt an bis heute unterschiedliche neue Tendenzen im
Hörspiel der sechziger und siebziger Jahre mit seiner Person verbindet.
Es lag nahe, mit
den ‚experimentellen Autoren’, die es in den 50er Jahren schwer hatten,
ihre Intentionen im Hörspiel zu realisieren, Verbindung aufzunehmen,
zunächst ihre (Schubladen-)Hörspiele zu senden und sie zur Mitarbeit an
neuen Projekten zu ermuntern. Diese aktive Dramaturgie wandte sich auch
konsequent an jüngere Autoren, die die experimentellen Methoden
aufgegriffen hatten und fortsetzten. […]
Zu der veränderten Arbeitsweise der Regisseure gehörte auch ein
stärkeres Interesse für die häufig als sekundär behandelte technische
Apparatur. Dieses Interesse beschleunigte im Hörspiel die Einführung
[…] der Stereophonie. Sie aktualisierte Fragen, die man vorher hatte
übergehen können. […]
Ein weiteres Motiv, das es dem Neuen Hörspiel ermöglichte, sich
allmählich zu entfalten, liegt in einer kritisch-analytischen
Bestandsaufnahme traditioneller Hörspielformen sowie der Formulierung
einer möglichen Alternative. (Schöning 1969, 8 f.)
Johann
M. Kamps, Hörspieldramaturg beim Saarländischen und Westdeutschen
Rundfunk, beschreibt 1969 mit Blick auf den Einsatz der Stereophonie im
Hörspiel die veränderte Arbeitsweise des Dramaturgen – es geht ihm um
Sprache als „Spielmaterial“, um „Sprachspiele“, die die tontechnischen
Möglichkeiten des Radios künstlerisch nutzen.
Die Arbeit des
Dramaturgen mit dem Autor wird zugleich einfacher und schwieriger. Der
Dramaturg gerät nicht mehr in die Peinlichkeit, dem Autor in seine
Geschichte hineinreden zu müssen, ihm seine Figuren umfunktionieren zu
wollen oder in den Handlungssträngen Unglaubwürdigkeit und Willkür
nachzuweisen. Er hat vielmehr den Autor dazu zu veranlassen, zu einem
gestellten oder vorgeschlagenen Thema das notwendige Material in einer
geeigneten Form zusammenzustellen. Die Diskussion geht um die
Grundlagen und Ausprägungsvarianten einer nachprüfbaren Methode, nicht
um die subjektive Interpretation einer Fabel. (Kamps 1969,
73).
Dabei
hat Kamps beispielsweise Stereo-Produktionen wie Das
Fußballspiel von Ludwig Harig oder das gras wies
wächst von Franz Mon im Blick, in denen Sprache nicht zum
Aufbau einer akustischen Illusion dient, sondern selbst Handlungsträger
wird.
In den siebziger Jahren folgen mit Klaus Schönings Ausführungen zum
Hörspiel als einer vom Rundfunk „verwalteten Kunst“ und dem
„O-Ton-Hörspiel“ bzw. „Neuen Hörspiel O-Ton“ sowie mit zahlreichen
Statements anderer Dramaturgen und „Hörspielmacher“ weitere
Konkretisierungen eines neuen dramaturgischen Selbstverständnisses, das
nicht nur der Technik und den nicht-literarischen Elementen des
Hörspiels, sondern auch dem Hörer als „Mitspieler“ einen neuen
Stellenwert zuweist.
Seit der Einführung des Privatradios in den achtziger Jahren und der
folgenden Konkurrenzsituation im dualen Rundfunksystem, sehen sich
viele Hörspielredaktionen in die Ecke gedrängt (vgl. Buggert 1985) –
dies gilt insbesondere für Redaktionen mit einer eher konventionellen
Dramaturgie ohne strategische Öffentlichkeitsarbeit, Sekundärverwertung
auf Tonträger und ohne Ideen für neue Zielgruppen, ohne systematisch
entwickelte Konzepte für die Reaktion auf aktuelle Veränderungen im
medienpolitischen, gesellschaftlichen, technischen und künstlerischen
Bereich. In einigen Landesrundfunkanstalten wird über einschneidende
Sparmaßnahmen verhandelt, aber: Die Hörspielarbeit ist in den
Diskussionen um den ‚Kulturauftrag’ der Hörfunkprogramme ein
öffentlich-rechtliches Vorzeigeobjekt und bleibt somit oft verschont.
Der SFB-Hörspielleiter Manfred Mixner beschreibt die Situation Anfang
der neunziger Jahre so:
In der Regel
quälen ihn [den Hörspielredakteur, F.S.] die Selbstzweifel, ob denn das
alles Sinn macht, was die Kollegen als teuren Luxus und die wenigen
Hörer, die sich zu Wort melden, als Verschrobenheit denunzieren – Lob
hört er selten, und so freut ihn solches selbst dann, wenn es von der
falschen Seite kommt. Trost findet er im Trotz, mit dem er auf seine
Künstlerschaft pocht, was würden denn all die guten Autoren ohne ihn
machen. Und überhaupt: Kunst muss sein, was wäre denn eine
öffentlich-rechtliche Anstalt ohne sie. Sein Lieblingswort in
Programmsitzungen: der ‚Kulturauftrag’. Und dann sitzt er vor dem
Schreibtisch, hätte so vielen Autoren zu antworten, die alle auf seine
weisen und wohl begründeten und aus tiefem subjektiven Kompetenzerleben
fließenden Entscheidungen warten. Konstellationen dieser Art sind der
ideale Nährboden für die Neurotisierung des zwangsläufig immer wieder
auf sich selbst zurückweisenden und zurückverwiesenen
‚Hörspielbetriebs’. (Mixner 1991, 49)
Dem
Druck durch drohende Einsparungen steht in den neunziger Jahren der
künstlerische und publizistische Erfolg (neuer) offener Hörspiel-,
Audiokunst- und Medienkunst-Dramaturgien gegenüber. Dies gilt unter
anderem für die Abteilung ‚Hörspiel und Medienkunst’ des BR, den
‚Lauschangriff’ im WDR-Hörfunkprogramm Eins Live, die Redaktion
‚Kunstradio – Radiokunst’ beim ORF und das ‚Studio Akustische Kunst’
des WDR, aber auch für die Arbeit des SWR im Umfeld des
Karl-Sczuka-Preises und das Programm von ‚SWR2 Klangraum: ars acustica’
und ‚Audiohyperspace’ sowie für einige Angebote im Programm des
Deutschlandradios (‚Wurfsendung’, ‚Geräusch des Monats’, ‚Klangkunst’).
Vor allem Christoph Lindenmeyer und Herbert Kapfer (Hörspiel und
Medienkunst), Klaus Schöning (Studio Akustische Kunst), Hans Burkhard
Schlichting (SWR-Hörspiel), Christoph Buggert (HR-Hörspiel) und Heidi
Grundmann (Kunstradio – Radiokunst) publizieren öffentlichkeitswirksam
– mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten und innerhalb
unterschiedlicher Traditionslinien – ihre Überlegungen zu den
Anforderungen an eine neue Dramaturgie, die auf
künstlerische, medientechnische, institutionelle und
zielgruppenbezogene Veränderungen reagiert. Klaus Schöning, ab 1991
Leiter der vom WDR eingerichteten Redaktion ‚Studio Akustische Kunst’:
Ein wesentlicher
Teil der redaktionellen Arbeit konzentriert sich bis heute darauf,
Künstler aus den unterschiedlichsten Medien und Disziplinen in den
Prozess der akustischen Realisierung ihrer Werke einzubinden. Sie mit
einer sich ständig auch technisch verändernden Apparatur vertraut zu
machen und dabei die technischen Instrumente produktiv und nicht
reproduktiv einzusetzen. (Schöning 1997, 6 f.)
1988
begannen Christoph Lindenmeyer und Herbert Kapfer mit einer
dramaturgischen Neuausrichtung der Hörspielarbeit des Bayerischen
Rundfunks. Kapfer, heute Leiter der Redaktion, beschreibt Ende der
neunziger Jahre die Kernpunkte dieser Konzeption:
Die
Hörspielstudios im Bayerischen Rundfunk sind die zentralen, doch nicht
die einzigen Produktionsstätten für neue künstlerische Produktionen,
denn die Ideen und Konzeptionen der aktuellen Medienkunst spielen mit
den Möglichkeiten medialer Vernetzung und erfordern die Zusammenarbeit
mit anderen kulturellen Institutionen und Partnern. Die Bühne, die
Ausstellung, das Fernsehen, das Internet sind Mitträger und Teile
übergreifender multidisziplinärer Produktionen, die von Medienkünstlern
in Zusammenarbeit mit der Abteilung Hörspiel und Medienkunst im
Bayerischen Rundfunk angeregt und veranstaltet werden. Die
übergreifenden multidisziplinären Produktionen basieren auf einem
neuen, in den 90er Jahren entwickelten redaktionellen Selbstverständnis
der Abteilung ‚Hörspiel und Medienkunst’: Neu ist der Ansatz, das
eigene Programm, die eigene Sendung bzw. Produktion als Ausgangsbasis
zu begreifen, um mediale Aktionen und kulturelle Ereignisse in
umfassendem Sinn und in Kooperation mit Kunsthäusern, Galerien, Bühnen,
Ausstellungsveranstaltern und dem Fernsehen zu initiieren. War bislang
das Sendeereignis – die Ursendung – der Fixpunkt einer
Hörspielproduktion, werden daneben auch andere, zusätzliche
Präsentations- und Verwertungsmöglichkeiten immer wichtiger. Dafür gibt
es künstlerische, aber auch marketingbezogene Gründe. Die neuen
medienkünstlerischen Konzeptionen verlagern sich aus den Studios und
Sendebetrieben in öffentliche Räume. Das Hörspiel kann in konzertanter
Form Bühnen- und Radioereignis werden. Hörspiele oder Radiokunststücke
präsentieren sich in Ausstellungen, multimedialen Performances und im
Internet. Remix-Initiativen führen das Hörspiel in neue Umfelder,
wenden sich an Publikumsgruppen, denen der historische Hörspiel-Begriff
fremd sein mag. (Kapfer 1999, 247 f.)
Die
Ausführungen Kapfers zur neuen BR-Dramaturgie zeigen deutlich, warum es
einzelnen Redaktionen gelingt, sich so erfolgreich im Hörspiel- und
Kulturbetrieb (neu) zu positionieren:
Das Radio ist hier in der Regel zwar das erste, aber nicht mehr das
einzige Medium für Hörspielkunst. Neben das Radioprogramm treten die
Online- und Live-Präsentation und die Vermarktung bzw.
‚Zweitverwertung’ auf Tonträger (im Idealfall haben auch solche
CD-Reihen ein spezifisches künstlerisches oder thematisches Profil und
eine eigene Zielgruppe; zumindest im Sinne der Profilbildung einer
Redaktion bzw. Dramaturgie sollten sie also nicht ausschließlich dazu
dienen, Material aus dem Schallarchiv oder ‚Klassiker’ und
‚Straßenfeger’ eines Senders aus rein ökonomischen Gründen zu
vermarkten). Die Produzenten arbeiten je nach den
technisch-künstlerischen Anforderungen und der Arbeitsweise der jeweils
Beteiligten entweder in den Hörspielstudios der ARD, zu Hause am
eigenen Computer, in spezialisierten Tonstudios oder auf der Bühne. Zu
den Aufgaben der Redaktion gehört dabei, nicht nur Autoren, sondern
auch Komponisten, Musiker, Schauspieler, Theatermacher, Netzkünstler
und bildende Künstler miteinander zu vernetzen und ihnen einen Freiraum
zu geben, in dem sie ihre Vorstellungen von Hörspiel, Klang-, Radio-
und Medienkunst umsetzen können.
Die Dramaturgen suchen neue Kooperationen und Zielgruppen außerhalb des
Hörfunks – nicht mehr nur unter den Hörern der traditionellen
Kulturradioprogramme. Sie nutzen die Strategien des Kulturmarketings
und schaffen gezielt Öffentlichkeit für die Weiterentwicklungen und
Ausweitungen der Hörkunst – beispielsweise durch ein vielfältiges
Internetangebot[1]
und ein umfangreiches Programmheft mit Hintergrundinformationen und
programmatischen Aufsätzen aus der Dramaturgie, durch
Veröffentlichungen in der Presse, Buchpublikationen, Magazinsendungen
(so beim BR und DLF), eigene Tonträgerreihen, Wettbewerbe und Preise
für Autoren oder freie Hörspielproduzenten und durch die Inszenierung
der Hörkunst als Event.[2]
Entscheidend ist auch – das wird mit Blick auf die in diesem Beitrag
dargestellte historische Entwicklung deutlich – die Fähigkeit der
Dramaturgen, neue Begriffe bzw. ‚Labels’ zu positionieren und diese
dann auch für längere Zeit kontinuierlich mit neuen eigenen
Inhalten zu füllen: ‚Hamburger Dramaturgie’, ‚Kölner Dramaturgie’,
‚Münchener Dramaturgie’, ‚Neues Hörspiel’, ‚Akustische Kunst’/‚Ars
Acustica’, ‚Pophörspiel’/‚Hörspiel-Pop’, ‚Readytapes’, ‚Kunstradio’,
‚Hörspiel als Medienkunst’/‚Intermedium’, ‚Audiohyperspace’,
‚Lauschangriff’/‚Soundstories’. Allerdings liegt hier auch die Gefahr,
zu lange auf bestimmte Labels oder Stilrichtungen festgelegt zu werden,
auch wenn sich die eigene Dramaturgie längst weiterentwickelt hat.
Die Anforderungen an die Dramaturgie im Hörspiel sind offensichtlich
bereits heute sehr vielfältig. Doch zeichnen sich schon jetzt weitere
Bereiche ab, in denen die Redaktionen aktiv werden müssten. So sind
gegenwärtig unter anderem Veränderungen in der Radio- und Audionutzung
zu beobachten, wie die zeit- und programmunabhängige Nutzung per
Audio-on-demand und die verstärkte Mobilität und Individualisierung,
beispielsweise durch MP3 und Podcasting. Darüber hinaus gibt es
zahlreiche technische Neuerungen bzw. Weiterentwicklungen im Bereich
des Hörfunks und der Onlinemedien, z.B. Mehrkanal- bzw.
Surround-Produktion‚ ‚Visualisierung’ des Hörfunks durch
Digitalradio-Technologien, Tendenz zu multimedialen Angeboten,
technische und qualitative Verbesserungen des Audiostreamings, der
Erfolg der Podcasting-Technik und der Wiki-Systeme sowie die zunehmende
Verbreitung der Internetangebote im Bereich ‚sozialer Netzwerke’ und
des sog. ‚Web 2.0’. Diese Entwicklungen werden die Hörspielabteilungen
und ihre redaktionellen Strategien in der Zukunft vor weitere
Herausforderungen stellen:
Welche künstlerischen Spielmöglichkeiten ergeben sich aus der
zunehmenden Mobilität und Zeit- und Programmunabhängigkeit der
Rezipienten – mobile Hörkunst, Hörspiel-on-demand? In welchem Umfang
und mit welchen Inhalten können die Redaktionen Podcasting-Angebote für
ihre Hörer bereitstellen? Wie können Wiki-Systeme oder soziale
Netzwerke für die Öffentlichkeitsarbeit und die Hörerbindung genutzt
werden? In welchem Umfang und in welche (dramaturgische,
hörspielästhetische) Richtung sollen die Versuche mit
Surround-Produktionen vorangetrieben werden? Wie kann das bislang fast
ausschließlich akustisch konzipierte Hörspiel auf den Trend zu
multimedialen Angeboten reagieren? Wie könnten von Hörspiel- und
Medienkunstredaktionen der ARD entwickelte zukünftige DVD-Produktionen
(als Ergänzung zu Audio-CDs bzw. Hörbüchern) aussehen? Welche
dramaturgischen Möglichkeiten ergeben sich durch neue netzbasierte
Verfahren und die steigenden Datenübertragungsraten privater
Internetanschlüsse für die Produktion und Präsentation von Hörkunst im
Internet? Wie gehen die Redaktionen und der Hörfunk als Institution
damit um, dass prinzipiell jeder interessierte Autor, Musiker, Künstler
und Regisseur mit etwas Know-how am eigenen Rechner Hörstücke
produzieren kann? In welcher Form können die ‚freie Hörspielszene’ und
die öffentlich-rechtlichen Hörspielabteilungen in Zukunft nebeneinander
bestehen und kooperieren? In welchen Bereichen der Technik, Dramaturgie
und Ästhetik kann das Hörspiel/die Radiokunst gezielt künstlerisch
weiterentwickelt werden? – Es stehen also zahlreiche Fragen auf der
redaktionellen Agenda.
Die hier beschriebenen historischen Positionen der Hörspieldramaturgie
sowie die aktuellen und zukünftigen Anforderungen an die redaktionelle
Arbeit zeigen auch zusätzliche Herausforderungen für die
Hörspielkritik, die Hörspielforschung und -geschichtsschreibung auf. Es
gilt, nicht nur das einzelne Hörspiel bzw. die einzelne Sendung zu
betrachten, sondern noch mehr als bisher auch den Rahmen der
Medienprodukte, d.h. die historischen und aktuellen dramaturgischen
Konzepte der einzelnen Redaktionen zu analysieren – ein zentraler
Aspekt der Hörspiel- und Radioarbeit, der zum einen in seiner
historischen Entwicklung im Detail aufgearbeitet und zum anderen auch
kontinuierlich beobachtet werden sollte.
Anmerkungen
[1] Mit
Pressemeldungen, Programminformationen zu den einzelnen Sendungen,
Programmarchiv, Downloads (Programmheft, Sendetermine/Programmschema,
MP3-Dateien), Newsletter, Hörbeispielen, Audio-Streaming, Podcasting,
Buch- und Tonträger-Shop, Veranstaltungsübersicht, Link- und
Literaturliste.
[2] Zum
Beispiel durch Festivals, Workshops, Hörspiel/Hörkunst im öffentlichen
Raum und öffentliche Vorführungen im Umfeld unterschiedlicher
Zielgruppen (Sendesaal, Theater, Konzertsaal, Literaturhaus, Galerie,
Club, Kino, Planetarium usw.).
Literatur
Bloom, Margret 1985: Die westdeutsche Nachkriegszeit im
literarischen Original-Hörspiel. Frankfurt am Main.
Buggert, Christoph 1985: Verkabelte Literatur? Die Chancen
des Hörspiels in der Medienzukunft. In: Thomson, Christian
W./Schneider, Irmela (Hrsg.). Grundzüge der Geschichte des europäischen
Hörspiels, Darmstadt, S. 207-220.
Buggert, Christoph 1997: Delirium Radio. Anmerkungen eines
Medien-Fossils. In: Radioästhetik – Hörspielästhetik;
Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft., H. 26, S. 30-39.
Fischer, Eugen Kurt 1964: Das Hörspiel. Form und Funktion.
Stuttgart.
Hickethier, Knut 1997: Radio und Hörspiel im Zeitalter der
Bilder. In: Radioästhetik – Hörspielästhetik; Augen-Blick.
Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, H. 26, S. 6-20.
Kamps, Johann M. 1969: Beschreibung, Kritik und Chancen der
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Kapfer, Herbert 1999: Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen
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Klostermeyer, Monika 1997: Das Hörspiel im Radio.
In: Radioästhetik – Hörspielästhetik; Augen-Blick. Marburger Hefte zur
Medienwissenschaft, H. 26, S. 40-43.
Mixner, Manfred 1991: Hörspiel als Invention. Ungeordnete
Gedanken zur Redaktions- und zur Studioarbeit. In:
Hörspiel-Positionen. Beiträge zu einer ästhetischen Theorie des Radios;
Sprache im technischen Zeitalter, Jg. 29, Nr. 117, S. 49-64.
Schätzlein, Frank 1997: Kunst und Kondensator. Hörspiel und
Technik seit 1923. In: ZMMnews (Sommer 1997), S. 36-39,
überarbeitete Online-Fassung unter:
www.akustische-medien.de/texte/zmm_kunst97.htm (Stand: 27.2.1997).
Schätzlein, Frank 2004: Von der automatischen Senderegie zum
Computer Integrated Radio. Entwicklung und Perspektiven der
Digitalisierung des Hörfunks. In: Segeberg, Harro (Hrsg.).
Die Medien und ihre Technik. Theorien – Modelle – Geschichte, Marburg,
S. 398-415.
Schöning, Klaus 1969: Anmerkungen. In: ders
(Hrsg.): Neues Hörspiel. Texte, Partituren, Frankfurt am Main, S. 7-16.
Schöning, Klaus 1997: Zur Archäologie der Akustischen Kunst
im Radio. In: WDR (Hrsg.). Klangreise – Sound Journey. Studio
Akustische Kunst. 155 Werke 1968-1997, Köln, S. 1-11.
Schwitzke, Heinz 1963: Das Hörspiel. Dramaturgie und
Geschichte. Köln/Berlin.
Wagner, Hans-Ulrich 1997: „Der gute Wille, etwas Neues zu
schaffen“. Das Hörspielprogramm in Deutschland von 1945 bis 1949.
Potsdam.
[In: Relating
Radio. Communities, Aesthetics, Access. Beiträge zur Zukunft des
Radios. Hrsg. von Golo Föllmer und Sven Thiermann. Leipzig: Spector
2006, S. 178-191.
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Textfassung vom 11.8.2006, © Frank
Schätzlein
URL:
http://www.frank-schaetzlein.de/texte/hoerspieldramaturgie.htm
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