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"Dudelfunk"-Theorie
Ein kurzer Rückblick auf Hörfunkforschung und Hörfunktheorie
in den neunziger Jahren – mit Forderungen für die Zukunft
Frank Schätzlein
[Druckfassung in: tiefenschärfe. Zeitschrift
des Medienzentrums/Zentrums für Medien und Medienkultur, Fachbereich 07
der Universität Hamburg (Winter 2001/02). S. 29-33.]
Inhalt:
1. Einleitung
2. Tendenzen in der Entwicklung
des Hörfunks in den neunziger Jahren
3. Themen und Aufgaben der
Hörfunkforschung
4. Formatradio-Konkurrenz:
Zwang zur Konvergenz?
5. Konvergenz-Hypothese und
Probleme der Forschung
6. Zukünftige Forschung:
Ausblick und Forderungen
7. Literatur
1.
Einleitung
Die Hörfunklandschaft der Bundesrepublik hat sich durch die Einführung
des dualen Rundfunksystems in den achtziger Jahren grundlegend
verändert. Eine Ausdehnung der Nutzungsdauer des Hörfunks ist kaum noch
möglich. Die steigende Anzahl der Programmanbieter sorgt deshalb bis
heute für eine verstärkte Konkurrenz unter den Sendern. Manfred Jenke
über den ARD-Hörfunk am Anfang der neunziger Jahre: „Zu keiner Zeit
stand das Radio [...] unter einem so intensiven Wettbewerbsdruck wie
heute - dies sowohl intramediär, in der Konkurrenz von Radioprogrammen
untereinander, als auch intermediär, in der Konkurrenz mit anderen
Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsmedien“ (Jenke 1991, S. 126). Um
konkurrenzfähig zu bleiben, sind die populären Begleitprogramme daher
gezwungen, die Programminhalte, die Präsentation („Verpackungselemente“
und Sounddesign) sowie die Programmstruktur auf die Interessen und das
Nutzungsverhalten ihrer potentiellen Hörer auszurichten. Die
Auftragsforschung dient dabei als Instrument der Programmplanung,
wichtige andere Untersuchungsgebiete in der wissenschaftlichen
Beschäftigung mit dem Hörfunk treten in den Hintergrund.
2. Tendenzen in der
Entwicklung des Hörfunks in den neunziger Jahren
Sieht man von der Digitalisierung der Radioproduktion und den bis zur
Gegenwart andauernden Versuchen der Etablierung einer digitalen
Sendetechnik ab, sind die Ökonomisierung/Kommerzialisierung und
Multimedialisierung des Hörfunks die bestimmenden Tendenzen seit
Einführung des dualen Mediensystems. Steuerungsmedium für die
Entwicklung des Hörfunks ist der Markt: Er bestimmt nicht nur die
ökonomische und organisatorischen Grundstruktur der Sendeanstalten,
sondern auch die inhaltliche Seite der Radioproduktion. Die
Hörfunkarbeit orientiert sich in ihrem Umfang, ihren Schwerpunkten und
ihrer inhaltlichen Gestaltung immer mehr am marktbezogen Organisier-
und Finanzierbaren. Das Formatradio-Prinzip ist kein Programmkonzept,
sondern eine Marketingstrategie.
Dies gilt in erster Linie für die Sender, die ihre Programm fast
ausschließlich mit der verhältnismäßig kostengünstigen Wiedergabe von
populärer Musik bestreiten. Der Gründungsboom kommerzieller Sender
erfolgte vor allem in Erwartung großer Gewinnchancen durch eine auf
Popmusik und die Musik der Hitlisten ausgerichtete Programmgestaltung.
Das zur Verfügung stehende Kapital wird bei diesen Sendern zur
Verbesserung der Produktions- und Übertragungstechnik sowie zur
Eigenwerbung eingesetzt, es dient nicht der Finanzierung künstlerischer
Programmformen, die verhältnismäßig finanzaufwendig sind.
Programminhalte werden hier nicht mehr in ihrer Eigenschaft als
kulturelles Gut betrachtet und entsprechend gefördert, sie sind
vielmehr nur noch ökonomische Ware.
Die Inhalte des Hörfunkprogramms werden in einen multimedialen Verbund
eingeplant. Das eine Medium dient dabei als „Resonanzverstärker“ des
anderen: Hörfunk - CD - Fernsehen - Video - Buch -
Merchandisingprodukte. Dabei entscheidet der jeweilige Marktwert der
verschiedenen Sendeformen und Produkte über ihre Präsenz im
Medienverbund. Werden auch Programminhalte mit künstlerischem Anspruch
und hohem kulturellen Wert (mit zunächst scheinbar niedrigem Marktwert)
in den Medienverbund einbezogen, können sie auf diesem Wege – über
andere Medien – neue Rezipientengruppen erreichen (vgl. Lindenmeyer 1994, S. 5 f.
und Müller 1995, S. 29 f.);
sie steigern dadurch wiederum ihren ökonomischen Wert und festigen
gleichzeitig ihre Position beispielsweise gegenüber der
kostengünstigeren Unterhaltungsmusik bei der Vergabe von Sendeplätzen.
3. Themen und Aufgaben der
Hörfunkforschung
Nach der Einführung des dualen Rundfunksystems in der Bundesrepublik
hat die wissenschaftliche (vor allem empirische) Forschung zum
Themenbereich Hörfunk deutlich zugenommen. Allerdings konzentrieren
sich die wissenschaftlichen Arbeiten der achtziger und neunziger Jahre
fast ausschließlich auf die Aspekte Ökonomie, Lokalfunk,
Hörfunknutzung, Reichweitenanalyse, Programmstruktur, Inhaltsanalyse
und Rundfunkrecht, in geringerem Umfang auch auf Technik und
Informations- bzw. Nachrichtensendungen (vgl.
Gleich 1995; Klingler
und Schröter 1993). Im Hinblick auf die Auftraggeber der
Forschungsarbeiten lassen sich folgende Kategorien unterscheiden (vgl. Gleich 1995, S. 554 f.):
1.) Die Markt- und Marketingstudien der Programmanbieter. Sie sollen
die Marktstellung des eigenen Senders ermitteln und diese durch
Konzepte und die Bestimmung von Richtwerten weiter ausbauen. Aufgrund
der verstärkten Konkurrenz der Rundfunkanstalten bleiben die Ergebnisse
dieser Studien meist unveröffentlicht und stehen somit nicht als
Material für Sekundäranalysen zur Verfügung.
2.) Die Auftragsforschung der Sender zu Reichweiten und Nutzungsdaten,
vor allem auf Grundlage der Media-Analysen. Diese Studien dienen der
regelmäßigen (Erfolgs-)Bilanz der verschiedenen Programme bzw.
Programmkonzepte und als Planungsgrundlage der Werbeindustrie. Zum
Bereich der Auftragsforschung gehören weiterhin die zahlreiche
Untersuchungen und Projekte der Landesmedienanstalten, meist im Rahmen
einer Kontrolle der kommerziellen Hörfunksender. Und schließlich noch
die im Auftrag von ARD und ZDF seit 1964 kontinuierlich durchgeführte
Langzeitstudie „Massenkommunikation“ im Klaus Berg und Marie-Luise
Kiefer (vgl. Berg und Kiefer 1996).
3.) Die Forschungsprojekte der Universitäten und wissenschaftlichen
Institutionen. Aufgrund der knappen Finanzmittel der Universitäten
weisen diese akademischen Untersuchungen jedoch nur einen geringen
Umfang auf. Auch konzentriert sich die universitäre Rundfunkforschung
seit etwa 25 Jahren zunehmend auf das Medium Fernsehen.
Die Grundlage vieler Analysen der Programmstrukturen und
Programminhalte öffentlich-rechtlicher und kommerzieller
Hörfunkanbieter ist die Frage nach der Konvergenz bzw. Divergenz der
Programmangebote (zur Konvergenzdebatte in bezug auf das Fernsehen
siehe z. B. Bleicher
1995a/1995b).
Im Folgenden wird die Argumentation einiger Hörfunkforscher vorgestellt
– als Beispiel für ein wissenschaftliches und medienpolitisches
Schlachtfeld der Radioforschung in der ersten Hälfte der neunziger
Jahre. Die wissenschaftlichen und medienpolitischen Streit über
Konvergenzphänomene im dualen Hörfunksystem fand 1995 seine Fortsetzung
in kulturkritischen Stellungnahmen im Feuilletonteil zahlreicher
Zeitungen (Becker 1995 und
Thomsen 1995; siehe
dazu Lindenmeyer 1994
und Labs 1995), zwei Jahre
später entwickelte sich das Thema weiter zur einer umfangreichen
Debatte über die öffentlich-rechtlichen Kulturprogramme und die
Kooperationsplanungen der Sender SFB, ORB und NDR für das
Gemeinschaftsprogramm „Radio 3“, die lange Zeit die Medienredaktionen
der deutschen Presse beschäftigte.
4. Formatradio-Konkurrenz:
Zwang zur Konvergenz?
Walter Klingler und Christian Schröter weisen in ihrer „Zwischenbilanz
der Hörfunkforschung im dualen System“ im Zeitraum von 1985 bis 1990
darauf hin, dass sich die „Mehrzahl der untersuchten, neu auf den Markt
getretenen privatrechtlichen Programme aus dem denkbaren
Hörfunkspektrum (vom Kultur- über Informations- bis reinen Musikkanal)
[...] als Service- und Begleitprogramme (mit der Tendenz zu weniger
Service)“ versteht (Klinger und
Schröter 1993, S. 488). Das Format Begleitprogramm ist nach
Klingler und Schröter an einem hohen Musikanteil zu erkennen - in
diesem Fall über 75 Prozent. „Damit zeigt sich zugleich [...] ihre
unmittelbare musikalische Konkurrenzstellung zu den populären
Hörfunkprogrammen der öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten“.
Und auch bei Manfred Jenke finden wir die Auffassung, dass sich das
Konvergenz-Phänomen nur im Bereich der musikalischen Programminhalte
zeigt:
„Eine Konvergenz der Angebote im Sinne einer Angleichung bis zur
Verwechselbarkeit von öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen
Programmen findet offensichtlich nicht oder nur auf eng begrenzten
Teilgebieten statt, z.B. dort wo Musikprogramme überwiegend
Schallplattenmusik bringen. [...] Nicht um Anpassung an die private
Konkurrenz geht es ihnen, sondern allenfalls darum, auf den Wellen des
Zeitgeistes schneller als bisher mitzuschwimmen.“ (Jenke 1995, S. 19). In einem
gewissen Rahmen lassen sich Phänomene der sogenannten Konvergenz – z.B.
bei der Programmgestaltung oder Musikauswahl – also kaum verhindern.
„In bezug auf den Vielfaltsanspruch zeigt die vergleichende Analyse,
dass die Programme wichtiger regionaler Anbieter [...] aufgrund ihrer
Strukturen in hohem Maße homogen sind und alle den Typ des
Begleitprogramms verkörpern. Wo viele um denselben Markt konkurrieren,
nämlich um die Begleithörer der Programme des öffentlich-rechtlichen
Hörfunks [...], müssen die Marktstrategien - also die
Programmstrukturierung - gezwungenermaßen ähnlich sein.“ (Bucher und Schröter 1990, S. 539).
Jenke macht mit einem Blick auf die medienpolitischen Forderungen des
Medienwissenschaftlers Klaus Merten deutlich, dass die großen
kulturellen und publizistischen Leistungen der öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten, die sie inhaltlich und formal eindeutig von den
Programmleistungen der kommerziellen Anbieter unterscheidbar machen,
nur mit einer hinreichend hohen Rundfunkgebühr finanzierbar sind (vgl. Jenke 1995, S. 19).
Auch Joachim Drengberg, Medienforscher beim Norddeutschen Rundfunk,
konstatiert deutliche Unterschiede zwischen den öffentlich-rechtlichen
und den kommerziellen Programmanbietern: „Zieht man alle
Programmbestandteile zusammen, die Wort unter Ausschluss von Werbung
bedeuten, so erreicht das WDR-2-Programm den höchsten Wort-Anteil vor
der Welle Nord und NDR 2. Die öffentlich-rechtlichen Programme bieten
somit deutlich mehr Information als die Privaten. [...] Die Privaten
fahren ihre Programme auch im Nachrichtenteil mit deutlich höherem
Tempo und benutzen hierzu vor allem knappe Moderation, Trailer und
Jingles. Im Gesamtprogramm spielen sie eine deutlich höhere Anzahl von
Musiktiteln. Im Vergleich zu den ARD-Programmen haben die Privaten vor
allem in der Berichterstattung und den Nachrichten die deutlich
geringeren Zeitanteile.“ (Drengberg
1993, S. 186).
In seiner Untersuchung des Wortangebots der Sender SR1 und Radio Salü
im Morgen-Programm resümiert Andreas Kindel: „Insgesamt lässt sich
[...] feststellen, dass das öffentlich-rechtliche und das
privat-rechtliche Programm in der Erhebungswoche sehr wohl zu
unterscheiden waren. Zwar waren die Differenzen zwischen SR1 und Salü
in Moderation, Unterhaltung und Service sehr gering. Dagegen geben die
großen Unterschiede beim Wort-Umfang, bei den Wort-Inhalten und zum
Teil auch bei den Präsentationsformen von Nachrichten und sonstigen
Wortbeiträgen den Programmen ein sich deutlich voneinander absetzendes
Profil.“ (Kindel 1995, S. 362)
Es ist deutlich geworden: Gewisse Konvergenzerscheinungen der
Programmangebote lassen sich bei einer übereinstimmenden
Rezipientenschicht der Hörfunkanbieter nicht vermeiden. Von einer
allgemeinen Konvergenz der beiden Rundfunksysteme kann kaum gesprochen
werden, nachweisen lässt sie sich fast ausschließlich im Bereich der
populären (Tonträger-)Musik. In den Sparten Nachrichten, Kulturprogramm
(mit Feature, Radioessay, Jazz, sogenannter E-Musik, radiophoner Kunst
u.ä.) und in bezug auf das Klangdesign der Sender (z. B.
Tempo: Anzahl der Schnitte, Musiktitel und Elemente der Produktion oder
Programmverbindung; siehe dazu auch Drengberg
1993, S. 184 ff.) kann – mit Blick auf die oben genannten
medienwissenschaftlichen Untersuchungen – zumindest bis Ende der
neunziger Jahre nur von einer hörbaren Divergenz öffentlich-rechtlicher
und kommerzieller Hörfunkanstalten gesprochen werden.
5. Konvergenz-Hypothese und
Probleme der Forschung
Folgt man dagegen den Ausführungen des Kommunikationswissenschaftlers
Klaus Merten, so hat ein öffentlich-rechtliches Programm nur dann „eine
Chance auf Akzeptanz, wenn es mehr Musik und weniger Wort enthält, wenn
es also das Programmkonzept der privaten Hörfunkanbieter kopiert.“ (Merten 1995b, S. 2) Der Anteil
der Musik am Programm ist für Merten ein „präziser Indikator für
Massenattraktivität im Hörfunk“; er stellt die Gleichung auf: hoher
Musikanteil = Massenattraktivität = Reichweite = Anpassung an die
Programmkonzepte der Privaten = Konvergenz (vgl.
Merten 1995a, S. 18). „Hörfunkprogramme wie N-Joy Radio oder
MDR life [weisen] Wortanteile von 14,8 % bzw. 14,7 % auf, die damit den
Mindeststandard, der den privaten Hörfunksendern vorgeschrieben ist,
deutlich unterlaufen“ (ebd., S. 18).
Merten teilt nicht die Auffassung, dass sich Konvergenz beim Kampf um
die gleiche Hörerschicht in bestimmten Bereichen des Programmangebotes
(siehe oben) gewissermaßen automatisch einstellt. Darüber hinaus
belässt er es nicht bei der Auswertung der Programme und der
Präsentation seiner Ergebnisse – er stellt vielmehr auch
medienpolitische Forderungen: „Das duale System des Hörfunks: Das damit
intendierte ‚faire Nebeneinander öffentlich-rechtlicher und privater
Hörfunkprogramme zur Stärkung der Informationsvielfalt’ funktioniert
offenbar wegen der nachweisbaren Konvergenz nicht. Allenfalls eine
Neudefinition von Grundversorgung, insbesondere aber deren programm-
und nicht senderintern zu fordernde Zurechenbarkeit, könnte den Zwang
zur Konvergenz verhindern. Damit ist zumindest klar: Es besteht derzeit
erheblicher medienpolitischer Handlungsbedarf.“ (ebd., S. 18)
Hinsichtlich der Grundannahmen der Analysen Mertens müssen hier Zweifel
angemeldet werden. So stellt sich die Frage, ob die alleinige und
ausschließlich quantitative Bestimmung des Minutenanteils von Wort,
Musik und Werbung als Indikator für die gesamte Programmstruktur eine
Programms, eines Senders oder der ARD-Hörfunksender allgemein
ausreicht. Lassen sich vom Analyseergebnis bei einer Untersuchung der
Inhalte eines bestimmten Programms (z.B. N-Joy oder MDR life)
Rückschlüsse auf die Programmstrukturen des gesamten Senders (NDR oder
MDR) ziehen? Ist der Musikanteil wirklich ein Nachweis oder sogar
Garant für Publikums- und Massenattraktivität?
Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass eine Inhaltsanalyse, die nur ein
einzelnes Programm einer öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalt
untersucht, nie alle Elemente der medialen „Grundversorgung“ vorfinden
wird. Nur die Gesamtheit aller Programme – oder mindestens zwei sich
gegenseitig ergänzende Programme – eines öffentlich-rechtlichen Senders
leistet eine allumfassende Grundversorgung. Auch lässt sich
beispielsweise aus der (inhaltlichen) Gestaltung des N-Joy-Programms
kein Rückschluss auf das alle Programme einbeziehende Gesamtkonzept des
NDR ziehen. Hier spiegelt sich die Debatte um eine
„außenpluralistische“ oder „binnenpluralistische“ Struktur der
Massenmedien. Merten spricht sich für letztere aus und beschreibt sie
als „programminterne Zurechenbarkeit der Grundversorgung“.
Gleichermaßen problematisch ist die These von der Indikatorfunktion des
Musikanteils - auch hier muss eine differenziertere Betrachtung
vorgenommen werden, weitere medien- und musikwissenschaftliche
Forschung ist notwendig. Viele Untersuchungen zum Hörfunk weisen darauf
hin, dass für die Auswahl eines Hörfunkprogramms durch die Rezipienten
noch andere Faktoren eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben.
„Noch
mehr überraschen die Erfolgsfaktoren des Lokalprogramms [...]. Denn
gerade die Musik, die doch fast alle Radiohörer des Sendegebiets für
immens wichtig halten, wird [...] wesentlich schlechter bewertet als
bei den Konkurrenzprogrammen oder den Lokalprogrammen in anderen
Sendegebieten. Die vergleichsweise große Schere, die sich zwischen
Anforderung und Beurteilung der Musik ergibt, wirkt sich offensichtlich
nicht negativ auf die Akzeptanz des Programms aus. [...] Das lokale
Hörfunkprogramm [...] scheint damit einem Bedürfnis zu entsprechen, das
den Hörern in diesem Sendegebiet offensichtlich noch wichtiger ist als
der von allen Radiohörern unisono geäußerte Wunsch nach guter Musik:
dem Wunsch nach lokaler Information und dem Wunsch nach Geborgenheit
inmitten lokaler Identität.“ (Kriner
und Sutor 1995, S. 22 f.)
Es
wird deutlich, dass der Qualität der Wortbeiträge ebenfalls eine
beachtliche Akzeptanzwirkung zukommt. „Es gibt eine erfolgreiches
Programmprofil, in dem das lokale Element eine ähnlich große Rolle
spielt wie die Musik.“ (ebd., S. 25)
Jenke schrieb schon 1991 im ARD-Jahrbuch: „Unterhalb der von den
ARD-Anstalten betriebenen landesweiten Programme siedeln sich in
einigen Bundesländern regionale und lokale Programme an, die ihr
Publikum finden, weil sie ‚bürgernah’ im buchstäblichen Sinne des
Wortes sind: Ihr Herkunftsort ist [...] eine Radiostudio ‚nebenan’.
[...] Die örtliche elektronische ‚Bild’-Zeitung hat offenbar bisher
vielen gefehlt.“ (Jenke 1991, S. 133;
auf die Bedeutung eines „ausgeprägten Regionalbezug[s]“ verweisen in
anderem Zusammenhang auch Bucher
und Schröter 1990, S. 539).
Schließlich muss im Zusammenhang mit Mertens Studien auf die
Problematik der (finanziellen) Abhängigkeit vom Auftraggeber und die
offensichtlichen methodischen Differenzen zwischen den Studien der
unterschiedlichen Rundfunkforscher hingewiesen werden. Die N-Joy Radio-
und MDR life-Programmanalyse war – wie bei ihrem Ergebnis und den damit
verbundenen polemischen und medienpolitischen Äußerungen des Autors
nicht anders zu erwarten – von den kommerziellen Hörfunksendern
Norddeutschlands in Auftrag gegeben worden, deren Hörer zu N-Joy
abgewandert waren. Klingler und Schröter hatten bereits zwei Jahre
zuvor auf die verbreitete Problematik einer zu geringen
wissenschaftlichen Neutralität der Forscher bzw. Autoren gegenüber den
Auftraggebern solcher Studien aufmerksam gemacht – sie steht mit großer
Wahrscheinlichkeit in direktem Zusammenhang mit der permanenten
Finanznot der akademischen Hörfunkforschung. „Unterschiedliche
Auftraggeber haben unterschiedliche Fragen, bieten unterschiedliche
wirtschaftliche und wissenschaftliche Möglichkeiten – Zwänge und
Eingebundenheiten.“ (Klingler und
Schröter 1993, S. 488; vgl. dazu auch Gleich 1995, S. 555).
Von grundlegender Bedeutung ist allerdings auch die Frage nach der
Einebnung der bestehenden methodischen Unterschiede. Als Beispiele
standardisierter Erhebungsmethoden für neuere Forschung favorisieren
Klingler und Schröter in ihrer „Zwischenbilanz der Hörfunkforschung“
die „vergleichende Formatanalyse“ bei Joachim Drengberg und die von
Ralph Weiß beispielhaft vorgeführte „vertiefende Fallstudie“.
6. Zukünftige Forschung:
Ausblick und Forderungen
Die Darstellung der Schwerpunkte deutscher Hörfunkforschung in den
neunziger Jahren zeigt, dass viele wichtige Aspekte des Mediums im
wissenschaftlichen Diskurs vernachlässigt werden. Aus diesen Defiziten
der Medienforschung, -analyse und -kritik lassen sich weitere
Forderungen ableiten:
1. Die Hörfunkforschung muss in ihrer Arbeit stärker am Rezipienten
orientieren. Es genügt nicht, ausschließlich Reichweiten und
Nutzungsdaten zu ermitteln – statt dessen gilt es, beispielsweise die
Einschaltmotive, Bedürfnisse und Medienwahrnehmung der Hörer zu
untersuchen.
2. Zur rezipientenorientierten Forschung gehören Ansätze einer
Hörfunk-Wirkungsforschung und die Analyse der psychischen und
physiologischen Wahrnehmungsprozesse beim Radiohören. Auf diesem Gebiet
gibt es bereits Untersuchungen der Musikpsychologie und -soziologie,
die als Grundlage medienwissenschaftlicher Arbeit dienen könnten (sie
sind allerdings vor allem auf die mediale Vermittlung und Reproduktion
von Musik bezogen, zu Wortsendungen liegen nur sehr wenige
wahrnehmungspsychologische Analysen vor).
3. Die Hörfunkforschung muss in erster Linie dem „wissenschaftlichen
und öffentlichen Diskurs verpflichtet“ sein und sich auf Befunde
beschränken, die das Ergebnisse wissenschaftlicher Analysen sind. Sie
soll nicht dazu dienen, lediglich die (medienpolitischen) Ideen und
Forderungen der Auftraggeber reproduzieren. Eine Ausdehnung der
inhaltlichen Forschung über den Bereich der Musik und der Nachrichten
hinaus auf die anderen Programmformen des Radios ist notwendig. Geboten
ist daneben auch die Standardisierung der Untersuchungs- und
Erhebungsmethoden.
4. Die bis vor etwa 20 Jahren noch recht lebhafte wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit der akustischen Kunst im Radio bzw. dem Radio
als akustischen Kunst, mit dem Hörspiel und dem Hörfunkfeature muss
wieder aufgenommen werden. Die große Zahl der in den letzten Jahren von
den ARD-Hörfunksendern erstmalig ausgestrahlten Werke (600 bis 800
Ursendungen pro Jahr) bietet dafür mehr als ausreichendes Material.
Arbeiten zur Hörspielproduktion und Hörspielästhetik werden im
wesentlichen nur noch von den Hörspielmachern selbst veröffentlicht –
die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Formen auditiven
Medienkunst ist fast ganz der Film- und Fernsehwissenschaft gewichen.
Eine Analyse der akustischen (Radio-)Kunst der Gegenwart ist auf das
interdisziplinäre Zusammenspiel von Literatur-, Medien- und
Musikwissenschaft in Verbindung mit Phonetik, Rezeptionsforschung und
Medientechnik angewiesen.
5. Der Hörfunk, die Audiokunst und die auditive Wahrnehmung selbst
müssen zu einem selbstverständlicheren Bestandteil der Medienpädagogik
und der Vermittlung kultureller und medialer Produkte werden. Das Ziel
ist der Aufbau und die Weiterentwicklung einer (der „Lesekultur“ im
Bereich der Printmedien sowie der Förderung der Medienkompetenz im
Umgang mit Internet und visuelle Medien entsprechenden) allgemeinen
„Hörkultur“ oder Hör(funk)kompetenz.
7.
Literatur
Becker, Jurek 1995: Die
Worte verschwinden. Der Schriftsteller Jurek Becker über den Niedergang
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In: Der Spiegel. Nr. 2.
S. 156-161.
Berg, Klaus und
Marie-Luise Kiefer (Hg.) 1996: Massenkommunikation. Eine
Langzeitstudie zur Mediennutzung und Medienbewertung. Teil 5: 1964-1995.
Baden-Baden: Nomos.
Bleicher, Joan
Kristin 1995a: Gestalt und Organe. Die Konvergenz-Theorie in
der Praxis (1). In: epd/Kirche und Rundfunk (25.02.1995). Nr.
15. S. 3-9.
Bleicher, Joan
Kristin 1995b: Äußerlichkeiten. Die Konvergenz-Theorie in
der Praxis (2). In: epd/Kirche und Rundfunk (04.03.1995). Nr.
16/17. S. 5-11.
Bucher, Hans-Jürgen
und Christian Schröter 1990: Privat-rechtliche
Hörfunkprogramme zwischen Kommerzialisierung und publizistischen
Anspruch. Eine Programm- und Informationsanalyse für Baden-Württemberg
und Rheinland-Pfalz. In: Media Perspektiven. H. 8. S. 517-539.
Drengberg, Joachim
1993: Formatanalyse für Radioprogramme. Der
Kompositionstechnik des Radios auf der Spur. In: Media
Perspektiven. H. 4. S. 183-190.
Gleich, Uli 1995: Hörfunkforschung
in der Bundesrepublik. Methodischer Überblick, Defizite und Perspektiven.
In: Media Perspektiven. H. 11. S. 554-561.
Jenke, Manfred 1991: Radio
im Wandel. Die Hörfunkprogramme der ARD am Beginn der neunziger Jahre.
In: ARD-Jahrbuch 91. S. 126-137.
Jenke, Manfred 1995: Akzeptanz
muß sein Das Publikum gewinnen ohne den Programmauftrag preiszugeben.
In: Tendenz. H. 2. S. 19.
Kindel, Andreas 1995:
Das Wortangebot in den Hörfunk-Morgenprogrammen. Ein
systematischer Vergleich zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem
Radio im Saarland. In: Rundfunk und Fernsehen. H. 3. S.
350-363.
Klingler, Walter
und Christian Schröter 1993: Strukturanalysen von
Radioprogrammen 1985 bis 1990. Eine Zwischenbilanz der Hörfunkforschung
im dualen System. In: Media Perspektiven. H. 10. S. 479-490.
Kriner, Gerhard und
Stefan Sutor 1995: Programmformat lokal. Bürgernähe ist ein
entscheidender Erfolgsfaktor. In: Tendenz. H. 2.
S. 22-25.
Labs, Axel 1995: Anderswo.
Das Radio: Ort von Kulturverlusten? In: epd/Kirche und
Rundfunk (22.03.1995). Nr. 22. S. 6-8.
Lindenmeyer,
Christoph 1994: Warum weiß Herr B. nicht, was läuft? Das
Kulturradio wird überleben. In: epd/Kirche und Rundfunk
(19.11.1994). Nr. 91. S. 3-6.
Merten, Klaus 1995a:
Konvergenz im Hörfunk bewiesen. Neudefinition der
Grundversorgung durch Politik erforderlich. In: Tendenz.
H. 2. S. 18.
Merten, Klaus 1995b:
No Joy für N-Joy. Es tut weh, beim
öffentlich-rechtlichen Heucheln ertappt zu werden. In:
FUNK-Korrespondenz (19.05.1995). Nr. 20. S. 1-4.
Müller, Eckhard 1995:
Markenartikel Radio. Wenn das Radio zum Werbekunden wird.
In: Tendenz. H. 2. S. 28 f.
Romann, Gernot 1995: Enjoy
N-Joy. Jetzt müssen die Kommerziellen ganz tapfer sein. In:
FUNK-Korrespondenz (19.05.1995). Nr. 20. S. 4-6.
Thomsen, Frank 1995:
Immerhin macht es nicht dumm. In: Die Zeit
(28.04.1995). Nr. 18. S. 63.
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